Seit dem 24. Februar 2022 ist in der Ukraine nichts mehr gleich: durch den russischen Angriffskrieg wurden weite Teile des Landes zerstört, viele Menschen mussten fliehen, es gab und gibt weiterhin unvorstellbares Leid an der Front. Doch während in Städten wie Donezk oder Charkiw Soldaten für die Ukraine kämpfen, blieb der Westen der Ukraine davon bisher mit ein paar Ausnahmen verschont. Lwiw liegt rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze in der Westukraine, und über 1000 Kilometer von der Kriegsfront entfernt, damit ungefähr so weit wie von Berlin nach Lwiw selbst.

Wie ist das Leben in der Stadt, die eine reiche Geschichte hat und von Tourismus geprägt ist? Wie viel Krieg ist im Westen der Ukraine zu spüren? Und, moralische Frage: darf man überhaupt als Tourist nach Lwiw, während am anderen Ende des Landes Krieg herrscht?

Bereits nach Ankunft in Lwiw wird man von alten Bekannten gegrüßt: alte Tatra-Straßenbahnen der BVG, 2018 nach Lwiw gebracht und mittlerweile umlackiert, fahren bis heute quer die Stadt. In den Eingangstüren stehen noch immer die Hinweise auf Deutsch, überklebt mit ukrainischer Übersetzung. Mit der Straßenbahn geht es in die Altstadt, die an einem Freitagmittag gut besucht ist. Für ein Land im Krieg ergibt sich ein unerwartetes Bild: Familien mit Kindern, junge Menschen am Lachen, Touristen, die Fotos vom Rathaus machen. Alle sind gut gelaunt, lächeln und wirken nicht so, als seien sie verängstigt. 

Direkt im Rathaus befindet sich die Touristeninformation der Stadt. Dort wird man mit offenen Armen empfangen und bekommt eine Menge an interessanten Informationen rund um die Stadtgeschichte. Die Mitarbeiterin erklärt auf Nachfrage, dass Lwiw eine sichere Stadt sei und sie sich über Touristen freuen würden. Besonders aus den USA und Asien, insbesondere China und Japan, kämen viele Touristen. Den Großteil mache aber seit dem Angriffskrieg die eigene Bevölkerung aus. Da bekommt „Urlaub im eigenen Land“ eine ganz andere, nachdenkliche Bedeutung.

Ein paar Fußminuten vom Rathaus entfernt ist die Lemberger Oper, die älteste Oper der Ukraine. Am Abend findet hier die Premiere der Oper „Der goldene Reifen“ statt. Premiere während des Krieges? Die Oper jedenfalls ist gut besucht, wenn auch nicht ausgebucht. Viele Menschen haben sich in legerer Abendgarderobe gekleidet und freuen sich auf die Vorführung. Vor der Aufführung standen alle auf, legten ihre Hand auf die Brust und es wurde die Nationalhymne der Ukraine gespielt. Sowas passiert im Regelfall nur bei Staatsbesuchen oder hochoffiziellen Anlässen, hier wird die Hymne seit 2022 vor jeder Aufführung gespielt. Nach der Hymne rief jemand leise „Slawa Ukrajini“ („Ruhm der Ukraine“), was vom gesamten Saal mit einem lauten „Herojam Slawa“ („Den Helden Ruhm!“) erwidert wurde. Man ist stolz auf sein Land und denkt an die Soldaten an der Front. Vor Beginn gab es dann noch die Durchsage, dass ein Luftalarm möglich sei. Man solle in diesem Fall den Bunker im Erdgeschoss aufsuchen. Wenn der Alarm weniger als eine Stunde dauert, würde man die Vorstellung fortsetzen. Am Ende der Oper gab es glücklicherweise jedoch keinen Luftalarm, sondern Blumensträuße für die Hauptdarsteller. Ein gelungener Abend, sagen einige Besucher im Anschluss im Foyer.

Die Lemberger Oper

Am nächsten Tag geht es vom Hotel wieder in die Altstadt. Dort trifft man auf viele Tourguides, die in unzähligen Sprachen ihre Tour anbieten, am Rathaus steht außerdem eine Bimmelbahn, die Touristen durch die Stadt kutschiert. Einer dieser Tourguides ist Igor, er ist in Lwiw geboren und aufgewachsen, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der Stadt und bringt sie seither Touristen nahe. Neben spannenden Fakten über die Stadt steht aber auch eine andere Sache im Vordergrund: der Krieg. Er sieht es nicht kritisch, wenn Menschen trotz des Krieges nach Lwiw kommen, und sagt weiter „the show must go on“. Gleichzeitig zeigt er auf Kirchenfenster, die mit einer Schutzschicht umhüllt sind: Dies sei aus Sicherheitsgründen, sollte es zu einem Luftangriff kommen, damit das historische Erbe nicht beschädigt wird. 

Während seiner Tour gibt es einen außerplanmäßigen Zwischenstopp an einer der vielen Kirchen. Dutzende Menschen stehen versammelt auf dem Vorplatz, Soldaten mit Flagge der Ukraine stehen daneben. Dann kommen Soldaten und tragen drei Särge in die Kirche hinein, es ist eine sehr bedrückende Stimmung. Igor erklärt, dass das fast täglich hier passiere, man ehre hier die gefallenen Soldaten aus Lwiw. Während der ehrenvollen Zeremonie fährt zufälligerweise ein Polizeiauto an der Kirche vorbei. Die Polizisten hielten an, stiegen aus und verneigten sich. 

Zurück auf dem Rathausplatz ist ebenfalls ein Mahnmal an den Krieg: täglich wird an einen anderen gefallenen Soldaten gedacht. Viele Menschen gehen am Mahnmal vorbei, halten kurz inne, verneigen sich und gehen dann weiter. Auch, wenn der Krieg nicht direkt präsent ist, wird an ihn, beziehungsweise viel mehr an die tapferen Soldaten, gedacht. Eine Sache, die schnell klar wird: Der Krieg soll präsent sein, man soll wissen, was an der Front passiert. Auf einem Mahnmal mit Bildern des Krieges vor dem Potocki-Palast steht darüber hinaus ein Zitat, dass in dieser Zeit immer und immer wieder veröffentlicht werden sollte: „War ist the greatest evil of this world; it is the stupidest thing in the world.“ („Krieg ist das größte Übel dieser Welt, er ist das Dümmste auf der Welt.“)

Den Luftalarm, den man in der Oper am Vortag ausgelassen hatte, bekam man dann aber am Nachmittag, ebenfalls auf dem Rathausplatz. Jedoch reagierte niemand alarmiert, niemand rannte los und niemand war sichtlich verängstigt. Das Leben ging ganz normal weiter, in den vielen Cafés wurde Kaffee verteilt, in der Touristeninformation wurde weiter gearbeitet. Luftalarme seien Routine und man sei es gewohnt, erzählt später eine Frau im Aufzug des Hotels. Sie kommt aus Kiew, da sei viel mehr los, da würde man auch tatsächlich in den Bunker gehen. Lwiw dagegen sei für sie eine ruhige Auszeit vor dem Stress in ihrer Heimat.

Dieses Bild zieht sich auch über verschiedene Orte der Stadt weiter: Es sind vor allem Einheimische, die hier ihren Sommer verbringen. Vor der Oper spielen Kinder, an den vielen Sitzbänken spielen ältere Menschen Schach, die Stimmung ist gelassen. In einer Seitenstraße ist ein Markt mit vielen kleinen Ständen aufgebaut. Die Anzahl an Souvenirs von der Stadt und vom Land sind bemerkenswert, und es zeigt, dass es wohl in der Tat einen regen Tourismus geben muss. Alle Verkäufer sind aufgeschlossen und versuchen einen trotz der Sprachbarriere zu verstehen.

Danach geht es mit der Berliner Straßenbahn ein wenig aus der Stadt hinaus in einen äußeren Bezirk. Die Frau an der Touristeninformation hatte das „Field of Mars“ empfohlen, es sei quasi verpflichtend, wenn man als Tourist in Zeiten des Krieges in die Ukraine reisen würde. Das Field of Mars ist ein riesiger Gedenkplatz für gefallene Soldaten aus der Region. Ein Meer an Flaggen und Blumen ist bereits aus der Entfernung zu erkennen. Jedes Grab ist mit einem Bild sowie Informationen zum Soldaten versehen, geschmückt mit der Flagge der Ukraine und vielen Kerzen, Blumen und anderen Dekorationen. Jedes einzelne Grab ist gepflegt. Vor Ort sitzen einige Menschen an den Gräbern und trauern, erneut eine bedrückende und nachdenkliche Atmosphäre.

Das Field of Mars

Insgesamt ist die Militärpräsenz in Lwiw überdurchschnittlich hoch, an vielen Ecken sind Soldaten unterwegs, wenn auch nicht unbedingt im Einsatz. Auf dem Rathausplatz fahren immer wieder Militärfahrzeuge vor und werden präsentiert. Selbst außerhalb der touristischen Gebiete sieht man Soldaten, die mit ihren Familien unterwegs sind. Nahe dem Park der Kulturen südlich der Innenstadt ist ein Freizeitpark mit einigen Fahrgeschäften, alle noch aus Sowjet-Zeit. Kinder lachen, haben Spaß und sind glücklich. Es ist in einer Ecke der Stadt, in der sich Touristen nur selten verirren, weshalb hier fast nur Einheimische anzutreffen sind. Und obwohl man als Tourist hier dann doch heraussticht, ist man herzlich willkommen.

Eine junge Dame erzählt, dass sie Tourismus in Lwiw gut findet, dass man neue Kulturen sehen und kennenlernen sollte. Man müsse sich jedoch darüber im Klaren sein, dass sich die Ukraine im Krieg befindet und sich entsprechend damit auseinandersetzen und Respekt davor haben. Sich der Sache bewusst sein ist in der Tat wichtig, denn im Notfall muss es schnell gehen. Außerdem sind Polizei, Militär und Ordnungsamt seit dem Kriegsbeginn besonders achtsam und sorgfältig, was bei der Leichtsinnigkeit mancher Touristen zur bösen Falle werden könnte.

Lwiw lebt zu einem großen Teil vom Tourismus, ohne ihn würde ein wichtiger Wirtschaftszweig wegfallen. Die Stadt ist den Umständen entsprechend durchaus sicher, obgleich das Auswärtige Amt eine akute Reisewarnung mit der Aufforderung zur Ausreise für die gesamte Ukraine herausgegeben hat. Ein Ausflug in das wichtigste Zentrum der Westukraine gibt einem einen neuen, wertvollen Blick auf das Leben im Krieg, auf die Kriegsverbrechen Russlands und nicht zuletzt die Menschen, die das Leid davon mittragen müssen. Zudem bietet die Stadt mit ihrer umfangreichen Geschichte viele Sehenswürdigkeiten und Kulturstätten. Nichtsdestotrotz sollte man sich den Risiken bewusst sein und genau planen. Nicht zuletzt, weil die Ausreise aus der Ukraine über die polnische Grenze viel Zeit in Anspruch nehmen kann.

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